Behinderung von Gesetzes wegen

[05.12.2017]  Artikel

Max ist drei Jahre alt und kann sich nur schwer verständigen, weil er fast nichts hört. Ihm wurden Implantate eingesetzt, mit denen er perspektivisch hören lernen soll. Ob das klappt und wie lange es dauert, weiß niemand. Damit sich Max mit seiner Familie verständigen kann, soll er deshalb eine laut- und gebärdensprachliche Förderung bekommen – so empfehlen es die Ärzte. Doch das Sozialamt Halle will den Gebärdensprachkurs, den seine Mutter beantragt hat, nicht finanzieren. Der Fall wird nun vor Gericht verhandelt, das kann Monate dauern. Zeit, in der Max sich nicht optimal entwickeln kann. Dabei geht es nicht um viel Geld: Der Kurs würde monatlich etwa 330 Euro mehr kosten, als das Sozialamt zu zahlen bereit wäre (Bericht des MDR-Nachrichtenmagazins „exakt“ am 1. November 2017).

So wie Max und seinen Eltern geht es vielen behinderten Menschen und ihren Familien: Ihnen werden die nötige Unterstützung oder passende Rahmenbedingungen für ein gutes Leben verwehrt oder sie müssen in zermürbenden Kämpfen dafür streiten. Aber nicht nur behinderte Menschen erleben das: Wer älter wird und die Treppen zur eigenen Wohnung nicht mehr schafft, findet kaum bezahlbaren barrierefreien Wohnraum. Wer unter den zunehmend belastenden Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr arbeiten kann und psychische Probleme bekommt, bleibt meist jahrelang arbeitslos und bekommt dann vom Jobcenter häufig als einzige Möglichkeit die Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen angeboten.

Gezwungen, im Wohnheim zu leben
All das sind Beispiele für gescheiterte Teilhabe und macht deutlich: Wer Unterstützung braucht, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen und an der Gesellschaft teilzuhaben, kann sich nicht darauf verlassen, sie zu bekommen. Dass sich hier etwas verbessern muss, ist schon seit Jahren klar. Und genau deshalb haben Union und SPD das Bundesteilhabegesetz, das sie vor ziemlich genau einem Jahr beschlossen haben, mit dem großen Versprechen verbunden, mehr Selbstbestimmung und Teilhabe möglich zu machen. Ein „modernes Teilhaberecht“ sollte es werden – also rechtlich garantieren, dass auch behinderte Menschen selbstbestimmt leben und in allen Lebensbereichen gleichberechtigt teilhaben können: gleiche Bildungschancen, gleiche Chancen, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, und die Möglichkeit, die Freizeit selbstbestimmt zu gestalten.

Das Bundesteilhabegesetz aber ermöglicht Menschen mit Beeinträchtigungen mitnichten gleiche Chancen und Rechte. Es eröffnet sogar – ganz im Gegensatz zu seinem Namen – Möglichkeiten, die Teilhabe behinderter Menschen deutlich einzuschränken: So können behinderte Menschen weiterhin vom Amt gezwungen werden, im Wohnheim zu leben. Und wer zum Beispiel im Sportverein oder Stadtrat ehrenamtlich tätig sein möchte, das aber nur mit Unterstützung wie einem Fahrdienst oder Gebärdensprachübersetzung kann, kann nicht sicher sein, dass diese Unterstützung finanziert wird. Das Bundesteilhabegesetz muss also in vielen Punkten korrigiert werden.

Die Mängel des Gesetzes sollten auch nichtbehinderte Menschen beunruhigen. Denn auch wer jetzt ohne Behinderungen lebt, wird alt und damit zunehmend auf Unterstützung angewiesen sein. Wer ein Kind erwartet, könnte möglicherweise ein Kind bekommen, das wie Max mit einer Beeinträchtigung lebt. Und auch nach einem Unfall oder einer Erkrankung kann plötzlich alles ganz anders aussehen – und plötzlich muss man mit Behörden darum kämpfen, dass Teilhabeleistungen bezahlt werden.

Behindertenpolitik ist kein Nischenthema
Wer also glaubt, Behindertenpolitik sei ein Nischenthema, täuscht sich gewaltig – auch weil behindertenpolitische Errungenschaften in andere Politikfelder ausstrahlen. So war beispielsweise die Vorstellung von Teilhabe, die in der Behindertenpolitik über Jahre entwickelt wurde, Vorbild für die Pflegereformen der vergangenen Jahre. Inzwischen stellt in der Theorie niemand mehr in Frage, dass Pflege mehr ist als „satt und sauber“, und auch alte pflegebedürftige Menschen ein Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben. Bislang wird der entsprechende Bedarf allerdings nur bei der Begutachtung erhoben, zusätzliche Leistungen gibt es kaum. Auch hier muss sich also noch vieles ändern.
Wir brauchen insgesamt mehr Angebote, die Menschen dort unterstützen, wo sie leben, lernen und arbeiten – sowohl für behinderte als auch für ältere Menschen. Wenn wir hier nicht weiterkommen, wird sich unsere Gesellschaft weiter spalten – in solche, die zurechtkommen, und solche, die immer mehr ausgegrenzt und abgehängt werden und als Last erscheinen.

Der Gastbeitrag ist erschienen in der ⇒ „Frankfurter Rundschau“ vom 4.12.2017