Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif

[16.08.2017]  Artikel

Aus unterschiedlichen Perspektiven lernen, Vielfalt kennenlernen, Toleranz entwickeln und Gemeinsamkeit stärken. So könnte es sein, wenn alle zusammen lernen: Arme, Reiche, Schlaue und Verträumte, Kids mit und ohne Migrationshintergrund oder Behinderungen. Das wäre inklusiv. Fehlanzeige, das deutsche Schulsystem bleibt hochselektiv. Dabei wird der Begriff der schulischen Inklusion landläufig gar nicht in seiner weiten Bedeutung verwendet, sondern meint lediglich das gemeinsame Unterrichten von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen. Wenigstens das sollte zu schaffen sein!

Vor gut acht Jahren hat Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Das war keine unverbindliche Geste. Die Menschenrechtskonvention, die unter anderem ein inklusives Bildungssystem vorschreibt, ist seitdem geltendes Recht. Eindeutiger geht es kaum. Es geht darum, ein Menschenrecht umzusetzen – und um bessere Bildungs- und Berufschancen für alle.

Studien belegen, dass Kinder mit und ohne besonderen Förderbedarf gleichermaßen vom gemeinsamen Unterricht profitieren. An Förderschulen dagegen erreichen drei Viertel aller Kinder keinen regulären Schulabschluss. Sie finden deshalb keine Lehrstelle und keinen Job. Kein Wunder, dass der Weg von der Förderschule meist direkt in eine Behindertenwerkstatt führt – und dort verbleibt man ziemlich sicher bis zur Verrentung.

Trotzdem ist vor allem im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen die lange schwelende Debatte um schulische Inklusion eskaliert. Gegnerinnen und -gegner stellen lautstark die Grundsatzfrage und behaupten allen Fakten zum Trotz, schulische Inklusion sei gescheitert. Der frisch gewählte Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet (CDU), und sein Koalitionspartner Christian Lindner (FDP) haben ihr schwarz-gelbes Projekt gar zu einem nicht unerheblichen Teil auf dem Rücken behinderter Kinder und Jugendlicher begründet. Besonders perfide wirkt die vermeintliche Orientierung am Wohl des Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Denen sei das Lernen an Regelschulen nicht zumutbar, heißt es. Hier werden schlechte Ausstattung und Negativbeispiele herangezogen, um eine unmissverständliche Botschaft auszusenden: Wir wollen euch nicht, bleibt an euren Sonderschulen.

Beunruhigend ist, dass inzwischen Eltern und Lehrkräfte, die Inklusion für sinnvoll hielten, ins Zweifeln kommen und immer skeptischer werden. Ein Ausdruck dessen ist auch die im Mai 2017 veröffentlichte Langzeitdokumentation „Ich.Du.Inklusion“ von Thomas Binn. Wer genau hinsieht, merkt schnell: Für Aussagen über Inklusion taugt der Film nicht. Die Probleme und Defizite, die er zeigt, haben mit Inklusion nichts zu tun. Doch es ist zurzeit en vogue, dass Inklusion für alles als Sündenbock herhalten muss, was an Schulen schief läuft. Die „Initiative Gemeinsam Leben, Gemeinsam Lernen NRW e.V.“ formulierte es in einem offenen Brief an Laschet und Lindner so: „Es würde uns kaum wundern, wenn Sie demnächst selbst verstopfte Schulklos als Inklusionsfolge beklagen würden.“

Volle Klassenzimmer, überforderte Lehrerinnen und Lehrer sowie marode Schulgebäude sind nicht der Inklusion anzulasten. Sie sind Folge der neoliberalen Sparpolitik der vergangenen Jahrzehnte – und eine Folge dessen, dass unbedingt zwei Systeme aufrechterhalten werden sollen. So steigt zwar einerseits die Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die Regelschulen besuchen. Doch gleichzeitig bleibt der Anteil von Kindern und Jugendlichen im Förderschulsystem seit Jahren konstant.

Ächzenden Schulen eine weitere Aufgabe zu geben, ohne die dafür nötigen Ressourcen bereitzustellen, kann nicht funktionieren – oder hat höchstens dort eine Erfolgschance, wo Idealisten und Selbstausbeuter am Werk sind. Schule braucht dringend vernünftige räumliche Bedingungen, kleinere Klassen und progressive pädagogische Ansätze, mehr Lehrerinnen und Lehrer, Sonderpädagoginnen und -pädagogen sowie Schulhelferinnen und -helfer. Nur dann können Kinder individuell betrachtet, unterstützt und gefördert werden.

Ein gutes inklusives Schulsystem gibt es nicht zum Nulltarif. Wir können es nur erreichen, wenn die vorhandenen Mittel und die sonderpädagogische Förderung konsequent an die Regelschulen umgeschichtet werden. Solange sich die Politik vor dieser Entscheidung drückt, wird es nicht funktionieren. Und viele Kinder bleiben auf der Strecke. Das ist verantwortungslos und traurig zugleich.

Der Gastbeitrag ist erschienen in der ⇒ „Frankfurter Rundschau“ vom 15.08.2017