Volle Grundsicherung – aber keine Rechtssicherheit

[20.04.2015]  Anfrage

Wer älter als 25 Jahre und erwerbsunfähig ist, bekommt unter Umständen 20 Prozent weniger Grundsicherung. Das trifft vor allem behinderte Menschen. Das Bundessozialgericht hält das für nicht rechtmäßig. Die Bundesregierung aber sieht keine Diskriminierung und möchte die Urteile nicht umsetzen.

Bereits mehrfach hat das Bundessozialgericht geurteilt, dass voll erwerbsgeminderte Erwachsene, die mit Verwandten oder Personen, die nicht Ehe oder (Lebens)-PartnerIn sind, in einem Haushalt leben, Anspruch auf die gleichen Leistungen haben, wie erwerbsfähige Erwachsene in dieser Situation (Regelbedarfsstufe 1). Aus den Urteilen geht eindeutig hervor, dass sie für alle Menschen in dieser Lebenssituation gelten – und nicht nur für die KlägerInnen. Die Bundesregierung sieht das anders und weigert sich, die Urteile konsequent umzusetzen. Wir wollten wissen, warum sie an der Ungleichbehandlung festhalten möchte und haben mit einer Kleinen Anfrage nachgehakt: Die Antworten stimmen wenig hoffnungsfroh.

Monatelang hatte sich die Bundesregierung geweigert, überhaupt Konsequenzen aus den Urteilen des Bundessozialgerichts zu ziehen. Erst nach öffentlichem Druck hat das Bundessozialministerium eine Übergangslösung präsentiert: Die Grundsicherungsämter sollen die Betroffenen formal weiterhin der Regelbedarfsstufe 3 zuordnen, die 20 Prozent unterhalb der Regelbedarfsstufe 1 liegt. Über eine Einzelfallregelung wird der Geldbetrag dann auf die Höhe „aufgestockt“, die der Regelbedarfsstufe 1 entspricht. Rechtssicherheit sieht anders aus! Die Bundesregierung verweist zwar auf ein Gesetzgebungsverfahren im nächsten Jahr, in dem sie neue Regelungen finden möchte (Antwort auf Frage 8). Doch das ist wenig beruhigend: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Bundesregierung plant, 2016 plötzlich im Sinne der Betroffenen zu handeln.

Dieser Verdacht entsteht nicht zuletzt, weil die Bundesregierung so tut, als seien ihr die Hände gebunden: Das Urteil des Bundessozialgerichts reiche nicht aus, sie könne nicht anders, als darauf zu warten, dass das Verfassungsgericht die gängige Praxis verwerfe (Antwort auf Frage 6). Hier macht sich eine übergroße Koalition sehr klein: Was hindert die Bundesregierung daran, mit ihrer großen Mehrheit im Bundestag bereits jetzt eine Rechtsänderung zu beschließen, nach der auch behinderten Menschen die volle Sozialleistung erhalten? Ganz offensichtlich möchten SPD und Union das nicht.

Obwohl die Bundesregierung davon ausgeht, dass tatsächlich überwiegend Menschen mit Behinderungen von der Grundsicherungskürzung betroffen sind, sieht sie darin keine Benachteiligung aufgrund einer Behinderung. Die Zuordnung zur Regelbedarfsstufe 3 erfolge ja, weil sich diese Personen in geringerem Ausmaß an den Kosten der Haushaltsführung beteiligten, nicht aber aufgrund ihrer Behinderung (Vorbemerkung). Dass es sich hier um indirekte Diskriminierung handelt, wird einfach unter den Teppich gekehrt – von einem Ministerium, das sich die Beseitigung von Diskriminierung auf die Fahnen geschrieben hat.

Schließlich listet die Bundesregierung in ihrer Antwort abenteuerliche Gründe auf, aus denen geringere Leistungen gerechtfertigt seien: Die betroffenen Personen würden sich in geringerem Umfang an den Kosten der Haushaltsführung beteiligen, weil sich der Lebensstandard der anderen Personen im gleichen Haushalt und die Ausstattung des Haushalts selbst „nicht nach den Maßstäben richten, wie sie für einkommensschwache und hilfebedürftige Haushalte gelten“ (Antwort auf Fragen 11-14). Heißt das, wer dauerhaft erwerbsunfähig ist und Sozialleistungen erhält, darf nicht mit einkommensstärkeren Menschen in einer Wohngemeinschaft leben, weil sonst die Leistungen gekürzt werden? Das treibt behinderte Menschen in stärkerem Ausmaß in die finanzielle Abhängigkeit von Anderen, als nichtbehinderte Menschen. Und es ist alles andere als ein Impuls, selbstbestimmt und selbstständig zu leben.