Auf Initiative von Katrin Langensiepen (Greens/EFA) verabschiedet das Europäische Parlament morgen eine Entschließung, in der es die Kommission auffordert, eine starke EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung für die Zeit nach 2020 zu erarbeiten. Trotz bisheriger Bemühungen der Kommission werden Menschen mit Behinderung in der EU weiterhin in vielen Lebensbereichen diskriminiert. Sei es beim Wohnen, Arbeiten oder Reisen – geltende Menschenrechte werden hier nach wie vor ignoriert. Auch von der COVID-19 Pandemie sind Menschen mit Behinderungen disproportional betroffen. In vielen Bereichen wurde sie im Stich gelassen.
Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik der Grünen-Bundestagsfraktion, begrüßt die Initiative des Europäischen Parlaments: „Ich freue mich über den Beschluss des EU-Parlaments, er bringt neuen Wind in die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Ein deutliches Signal ist insbesondere das klare Bekenntnis zu Unterstützungsanboten, die sich an den Interessen und Bedürfnissen behinderter Menschen orientieren. Wir müssen auch in Deutschland große und wenig flexible Angebote wie Komplexeinrichtungen und Werkstätten für behinderten Menschen zugunsten guter inklusiver Strukturen umbauen.“
Katrin Langensiepen, Vize-Vorsitzende des Sozialausschusses, Co-Vorsitzende der Disability Intergroup und einzige weibliche Abgeordnete im Europäischen Parlament mit sichtbarer Behinderung, kommentiert: „Mit dieser Entschließung fordert das Europäische Parlament schnelle und starke Maßnahmen für ein inklusives Europa. Gerade jetzt ist dies bitter nötig. Die Pandemie hat uns wieder einmal schmerzlich verdeutlicht, wie stark Menschen mit Behinderung diskriminiert werden und wie gefährliche mangelnde Inklusionsmaßnahmen sind. Eingeschränkter bis kein Zugang zu medizinischer Versorgung, Hilfeleistungen und Informationen sowie abgeschottetes Leben in Einrichtungen hatten für vielen verheerende – wenn nicht tödliche – Konsequenzen.
Nach fast 10 Jahren haben die EU-Mitgliedstaaten es immer noch nicht geschafft, die UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Für Menschen mit Behinderung sind ein selbstbestimmtes Leben, Chancengleichheit und Teilhabe nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Es kann nicht sein, dass in der EU immer noch täglich gegen Menschenrecht verstoßen wird. Um Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben fordern wir von der Kommission, dass sie ein starkes Maßnahmenpaket mit verbindlichen Zielen und Fristen festlegt. Dabei ist es besonders wichtig, dass die EU über bessere Kontrollmechanismen verfügt und Menschen mit Behinderung in den Prozess einbindet. Zurzeit gibt es nur wenig vergleichbare Daten, so dass es schwierig ist, die tatsächliche Situation nachzuvollziehen.“
Mit dem Entschließungsantrag fordert das Europäische Parlament eine Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen für die Zeit nach 2020, die:
- klar definierte und verbindliche Ziele in einem festgelegten Zeitrahmen setzt
- über ausreichende finanzielle Mittel verfügt
- einen starken Monitoring Mechanismus mit entsprechenden Indikatoren etabliert, um die Situation in den Mitgliedstaaten besser nachvollziehen zu können
- Menschen mit Behinderung, Familienmitglieder und ihre vertretenden Organisationen stärker in den Gesetzgebungs-, Umsetzungs- und Monitoring-Prozess einbindet und dafür eine angemessene Finanzierung einplant
- die Rechte von Menschen mit Behinderung in allen EU-Politikfeldern abbildet
- unabhängiges, selbstständiges Leben, Assistenz und barrierefreies Wohnen fördert und De-Institutionalisierung voranbringt
- pflegende Familienmitglieder unterstützt und bezahlte Pflegezeit fördert
- das Projekt eines EU-Behindertenausweises in allen Mitgliedstaaten umsetzt
- spezifische Maßnahmen bezüglich intersektioneller Diskriminierung entwickelt (Mehrfachdiskriminierung aufgrund von Behinderung, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, sozioökonomischer Status etc.)
- einen besonderen Fokus auf Geschlechtergleichheit setzt (insbesondere Frauen sind von Diskriminierung, Armut und Gewalt betroffen)
- einen kindgerechten Ansatz verfolgt
- sich auch für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention außerhalb der EU einsetzt
- Rechtsverletzungen und Herausforderungen während der COVID-19-Pandemie evaluiert und spezifische Maßnahmen vorschlägt, um diese in Zukunft zu verhindern
Hintergrund:
Menschenrechtsverletzungen während der COVID-19 Pandemie
- Eingeschränkter/nicht vorhandener Zugang zur Gesundheitsversorgung/Triage: Die Hälfte der Coronavirus-Todesfälle ereigneten sich in Pflegeheimen. Häufig erhielten Bewohner*innen keine medizinische Hilfe. In einer Einrichtung in Rumänien wurden 242 Menschen mit Behinderungen infiziert, jedoch nicht ins Krankenhaus gebracht. Ähnliches ereignete sich auch in Spanien.
- Eingeschränkter/kein Zugang zu Pflege- und Unterstützungsdiensten (häusliche Pflege, Lebensmittelversorgung, Therapie): In den Niederlanden gaben 60% der Menschen mit Behinderungen an, dass die von ihnen benötigte Pflegeleistungen aufgehört oder sich verringert haben. Auf EU-Ebene geben 74% der Pflegedienste an, nicht über ausreichende Schutzausrüstung zu verfügen, 83% geben an, länger zu arbeiten.
- Begrenzter Zugang zu Informationen: Telefon-Hotlines, öffentliche Durchsagen waren oft nicht für alle zugänglich (Mangel an Gebärdensprache, Untertiteln, einfache Sprache).
Zahlen zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung in der EU
- 29 % aller Menschen mit Behinderung in der EU leben derzeit in Armut und erfahren soziale Ausgrenzung.
- Nur die Hälfte aller Menschen mit Behinderung haben eine Anstellung, im Vergleich zu 75 % bei Menschen ohne Behinderung.
- In Deutschland sind Frauen mit Behinderungen zwei- bis dreimal häufiger von sexuellem Missbrauch betroffen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt