Warum 85.000 Deutsche nicht wählen dürfen

[23.08.2017]  Artikel

Der folgende Artikel ist erschienen in der ⇒ Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 21.08.2017

Die Regeln sind eindeutig: Wenn im September der neue Bundestag gewählt wird, darf jeder, der Deutscher ist und das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, seine Stimme abgeben. Aber es gibt knapp 85.000 deutsche Staatsbürger, die diese Bedingungen erfüllen und trotzdem nicht wählen dürfen. Ihnen ist das Wahlrecht entzogen worden, weil sie als schuldunfähige Straftäter in einer psychiatrischen Anstalt sitzen oder dauerhaft „in allen Angelegenheiten“ betreut werden.

Letzteres bedeutet, dass ein Gericht dem jeweils Betroffenen einen Betreuer zur Seite gestellt hat, der etwa über dessen Wohnsitz bestimmt und in Vermögensangelegenheiten oder bei der Gesundheitsvorsorge für ihn entscheidet. Dem Betreuten wird kein eigenverantwortliches Entscheiden in diesen Fragen zugetraut. Auch an der Europawahl dürfen diese Menschen nicht teilnehmen, Gleiches gilt in den meisten Bundesländern auch für die Wahlen zum Landtag und in den Kommunen.

Ein unhaltbarer Zustand, sagen Sozialverbände, aber auch Politiker von SPD, Grünen und Linkspartei. Sie fordern, dass die entsprechenden Abschnitte im Bundeswahlgesetz (§13) und im Europawahlgesetz (§6) ersatzlos gestrichen werden. Ihnen geht es weniger um die etwa 3000 schuldunfähigen Straftäter, sondern vor allem um jene, die wegen einer sogenannten „Vollbetreuung“ ihr Wahlrecht verloren haben.

Laut einer Studie, die Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) in Auftrag gegeben hat, sind das rund 81.000 Menschen und damit der Großteil der Ausgeschlossenen. Darunter sind viele Behinderte, etwa Menschen mit Intelligenzminderungen oder Down-Syndrom. „Das ist ein ganz großer Missstand“, sagt die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. „Wählen ist ein demokratisches Grundrecht. Wenn wir eine gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung wollen, geht kein Weg daran vorbei, die Ausschlüsse zu streichen.“

Gerade weil Behinderte in besonderem Maße, zum Beispiel bei der Finanzierung von Pflegehilfe, von den Entscheidungen des Gesetzgebers abhängig seien, sollte niemand von der Wahl ausgeschlossen werden, sagt auch Corinna Rüffer, die behindertenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen.

Ein Argument der Kritiker ist, dass Menschen, die eine Vorsorgevollmacht unterzeichnet haben und etwa dement sind, auch wählen dürfen – obwohl sie kognitiv ein ähnliches Vermögen wie viele Vollbetreute haben. Das sei willkürlich. Im Mai unternahmen Rüffer und ihre Mitstreiter von den Grünen mit der Linkspartei den vorerst letzten Anlauf, einen entsprechenden Gesetzentwurf erfolgreich einzubringen – vergeblich.

Union und SPD strichen das Thema von der Tagesordnung des Innenausschusses. Die Regelung gilt weiterhin, daran dürfte auch eine anhängige Wahlprüfungsbeschwerde von acht Betroffenen vor dem Bundesverfassungsgericht nichts mehr ändern. Das Gericht sei bestrebt, das Verfahren „im laufenden Jahr abzuschließen“, sagte eine Sprecherin. Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben entsprechende Regelungen in den Landesgesetzen zuletzt gestrichen. „Vollbetreute“ durften dort im Mai bei der jeweiligen Landtagswahl wählen.

Doch wie sollen Menschen ihr Kreuz machen, wenn ihnen ein Richter nicht zutraut, ihr eigenes Leben zu regeln? Rüffer sagt, dass es zunächst nur um das grundsätzliche Recht gehe, wählen zu dürfen. „Es gibt unter diesen Menschen Leute, die würden gar nicht auf die Idee kommen, sich an Wahlen zu beteiligen“, sagt die Grünen-Politikerin, „andere haben ein großes Interesse und wissen durchaus, welche Partei ihren Interessen entgegenkommt.“ Ihnen müsse man die Wahl ermöglichen – etwa mit Wahlzetteln und -programmen in sogenannter „Leichter Sprache“, aber auch, indem sie jemand bei der Wahl unterstützt und sich vorher mit ihnen über die Programme unterhält. Den Willen zur Wahl müsse der Betreute aber letztlich selbst bekunden. „Wir wollen nicht, dass die Stimme stellvertretend abgegeben wird“, sagt Rüffer.

Auch Uwe Schummer, der Behindertenbeauftragte der CDU-Bundestagsfraktion, ist für eine Assistenz. Seine Partei neigt den Plänen der Opposition aber weniger zu als der Koalitionspartner SPD. Die Union will die Ausschlussfrage nur im Rahmen einer großen Wahlrechtsreform verhandeln. In einem Beschluss steht, man wolle den bisherigen Ausschluss „prüfen“ und „ein modernes Betreuungsrecht, das zu einer assistierten Entscheidungsfindung verhilft“, schaffen.

Wie die Fachpolitiker von Grünen, SPD und Linke sagt Schummer, dass der derzeitige Ausschluss nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK §29) vereinbar sei. Die für das Sozialministerium verfasste Studie kommt indessen zu dem Ergebnis, es gebe eine „ungeschriebene Möglichkeit von Differenzierungen im Rahmen der BRK, die bei Rechtfertigung keine verbotene Diskriminierung darstellen“.

„Ich habe noch nie eine so aufgeladene Diskussion erlebt“, sagt Heinrich Lang. Der Hochschullehrer war für den verfassungsrechtlichen Teil der Studie verantwortlich und hat vor dem Innenausschuss des Bundestags als Sachverständiger gesprochen. Er lehrt Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht an der Universität Greifswald und ist auch Diplom-Sozialpädagoge. Die Kombination macht ihn zu einem Fachmann in der Ausschlussfrage. Dass jemand, der in allen Angelegenheiten betreut wird, nicht wählen kann, hält Lang für vertretbar. Das steht auch so in der Studie.

Assistenz sei eine Möglichkeit, habe jedoch ihre Grenzen. Lang: „Es gibt Fälle, in denen es keine Assistenz mehr geben kann.“ Für Menschen, die nicht in der Lage seien, Entscheidungen zu treffen, dürfe niemand das Kreuz machen. Auch, weil es sonst schwierig sei, einen anderen Ausschluss aufrechtzuerhalten. „Es wäre schwierig, zu begründen, wieso ein entwickelter Siebzehnjähriger nicht wählen darf, jemand mit Vollbetreuung aber schon“, sagt Lang.

Im Zusammenhang mit dem Ausschluss von einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu sprechen, findet Lang nicht richtig. „Kein behinderter Mensch in Deutschland verliert sein Wahlrecht, weil er behindert ist. Der Verlust des Wahlrechts knüpft an die betreuungsgerichtliche Feststellung an, dass der Betroffene keine seiner Angelegenheiten mehr eigenverantwortlich regeln kann.“ Nicht zuletzt seien unter den Vollbetreuten auch viele Menschen mit Demenz oder Drogenabhängige, die psychische Störungen ausgebildet hätten.

Gleichwohl dürfte die Zahl der von Wahlen Ausgeschlossenen sinken – auch unabhängig von einer etwaigen Gesetzesänderung. Viele Betreuungsrichter entscheiden sich bewusst dagegen, eine Betreuung „in allen Angelegenheiten“ auszusprechen. „Ich möchte mit der Wirkung meines Beschlusses nicht so weit gehen“, sagt Peter Fölsch, bis vor einem Jahr in Lübeck und zuvor in Kiel als Betreuungsrichter tätig und Mitglied im Präsidium des Deutschen Richterbundes. Eine Vollbetreuung hat er nie veranlasst. Auch habe er in Schleswig-Holstein „nahezu nie davon gehört“, dass es ein anderer Richter getan habe.

In anderen Bundesländern, etwa in Berlin, ist die Praxis ähnlich. Nur wenn der Passus einer Betreuung „in allen Angelegenheiten“ in dem Beschluss des Gerichts steht, muss eine Meldung an die Wahlbehörde erfolgen und der Betreute wird aus dem Wählerregister gestrichen. Definiert der Richter hingegen mehrere sogenannte „Aufgabenkreise“, muss keine Meldung erfolgen. Auch wenn der Richter so viele Aufgaben definiert, dass sein Beschluss letztlich einer Vollbetreuung gleichkommt.

Erschienen in der ⇒ Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 21.08.2017