Das Recht auf Teilhabe endlich umsetzen

[26.09.2016]  Artikel

Die Behindertenbewegung findet dieser Tage zu ihren radikalen Wurzeln zurück. Die AktivistInnen sehen nur zu genau, dass ihre Rechte zwar auf dem Papier beschworen werden – während die Bundesregierung gleichzeitig versucht, ein Gesetz zu verabschieden, das die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in wesentlichen Bereichen verschlechtern wird. (Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau)

Dreieinhalb Jahrzehnte sind vergangen, seitdem ein aufgebrachter Mann den damaligen Bundespräsident Karl Carstens mit seiner Krücke schlug. Das war 1981, dem Jahr, das die Vereinten Nationen zum „Jahr der Behinderten“ erklärt hatten. Der Mann hieß Franz Christoph, und er war das, was wir heute als „Wutbürger“ bezeichnen. Sein Motiv: Lebenserfahrung und angestaute Frustration darüber, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland nicht die gleichen Rechte genießen wie alle anderen.

Christoph hatte es satt, salbungsvolle Sonntagsreden von Nächstenliebe und Dankbarkeit zu ertragen, keine barrierefreie Wohnung zu finden und der Straßenbahn nachzuwinken, weil Stufen und Mittelstange ihm den Zugang versperrten. Seine Attacke spiegelte die pure Verzweiflung von Menschen mit Behinderungen in der damaligen Zeit wider. Und die Reaktion auf seinen Protest musste als Beleg für seine Kritik gelten: Carstens hielt es nicht für nötig, Christoph anzuzeigen. Er nahm ihn schlicht nicht ernst.

Sind wir heute weiter als vor 35 Jahren? Mit Blick auf das Bundesteilhabegesetz, dessen Entwurf diese Woche in Bundestag und Bundesrat in erster Lesung beraten wird, muss man leider sagen: nein. Zwar wurde seit damals viel für Menschen mit Behinderungen erreicht – oft von der Behindertenbewegung selbst vorangetrieben. 1994 etwa wurde Artikel 3 des Grundgesetzes um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ ergänzt, 2002 folgte das Behindertengleichstellungsgesetz, 2006 trat das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Kraft. Doch die Bundesregierung ist offenkundig nicht Willens, das Recht von Menschen mit Behinderungen auf volle gesellschaftliche Teilhabe umzusetzen.

Das bescheinigten ihr kürzlich auch die Vereinten Nationen. Laut UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland 2009 ratifiziert hat, haben Menschen mit Behinderungen das Recht auf vollumfängliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – und der Staat ist verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Als der zuständige UN-Fachausschuss die Umsetzung der Konvention in Deutschland Anfang 2015 überprüfte, fiel sein Urteil jedoch niederschmetternd aus: Der Menschenrechtsansatz der Konvention sei hierzulande in vielen Bereichen weder verstanden noch umgesetzt worden und auch in den meisten Gesetzen nicht sichtbar.

So sei beispielsweise nicht gewährleistet, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, wo er wohnen will. Sozialämter verweigerten AntragstellerInnen das Wahlrecht und verwiesen sie auf Wohnheime. Für viele Menschen sei der Weg in Förderschulen und weiter in Werkstätten für behinderte Menschen vorgezeichnet. Wer davon abweichen wolle, müsse meist jahrelang um die notwendige Unterstützung kämpfen, obwohl darauf ein Rechtsanspruch besteht.

Im Koalitionsvertrag hatte die Bundesregierung nun versprochen, mit einem modernen Teilhaberecht die Grundlagen für mehr Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Was eigentlich gut klingt, hat tatsächlich dazu geführt, dass die Behindertenbewegung dieser Tage zu ihren radikalen Wurzeln zurückfindet: Menschen mit Behinderungen fallen SPD-Chef Sigmar Gabriel bei einer Veranstaltung ins Wort, sie besetzen das Bundessozialministerium von Andrea Nahles, sperren sich am Berliner Hauptbahnhof in einen Käfig und ketten sich am Reichstagsufer an.

Die AktivistInnen der Bewegung sehen nur zu genau, dass ihre Rechte zwar auf dem Papier beschworen werden – doch in der Realität versucht die Bundesregierung gerade, ein Gesetz zu verabschieden, das die soziale und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in wesentlichen Bereichen verschlechtert.

Die Menschen befürchten zurecht, dass das Bundesteilhabegesetz zum Rotstift-Gesetz mutieren könnte. Denn tatsächlich droht nach jetzigem Stand, der Kreis der Leistungsberechtigten eingeschränkt zu werden und das Recht auf Selbstbestimmung steht unter Kostenvorbehalt. Deshalb haben insbesondere Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf und geistig behinderte Menschen von dem Gesetz in der derzeitigen Form große Nachteile zu erwarten. Es besteht beispielsweise die Gefahr, dass Menschen mit hohem Assistenzbedarf aus Kostengründen in Pflegeheime gedrängt werden. Zudem können Menschen gezwungen werden, sich Leistungen wie beispielsweise eine „Persönliche Assistenz“ mit anderen zu teilen. Durch dieses „Zwangspoolen“, wie die Szene es nennt, wird Menschen das Recht abgesprochen werden, selber zu entscheiden, wer sie bei intimsten Verrichtungen unterstützt. Außerdem sollen Menschen mit Behinderungen für die Unterstützungsleistungen, die sie brauchen, weiterhin selbst mitbezahlen. Für viele Betroffene wird der Eigenanteil sogar steigen.

Es ist gut, dass die Behindertenbewegung gegen dieses Gesetz Sturm läuft. Denn es braucht Widerstand und muss dringend verbessert werden. Insbesondere muss sichergestellt sein, dass alle, die Unterstützung brauchen, diese auch bekommen – ohne dafür aus eigener Tasche zahlen zu müssen. Und Menschen mit Behinderungen müssen selbst bestimmen können, wo, wie und mit wem sie leben möchten – und wer sie dabei unterstützen soll.

Das Bundesteilhabegesetz in seiner derzeitigen Form jedenfalls wäre eine Ohrfeige für Menschen mit Behinderungen und wird weder seinem Namen noch UN-Behindertenrechtskonvention gerecht. 35 Jahre nach der Attacke auf den Bundespräsidenten, darf Teilhabe nicht auf Sonntagsreden beschränkt bleiben.

 

Erschienen in der „Frankfurter Rundschau“ vom 23.09.2016