Öffentliche Anhörung: Die inklusive Gesellschaft gestalten!

[10.12.2014]  Anhörung

Wie kann die Teilhabe behinderter Menschen verbessert werden? Im Rahmen einer öffentlichen Anhörung befragten die Abgeordneten des Ausschuss für Arbeit und Soziales am 10. November Expertinnen und Experten zu den Vorschlägen der Oppositionsfraktionen.

Nancy Poser, Sachverständige aus Trier, schilderte gleich zu Beginn eines der bestehenden Probleme sehr anschaulich: „Ich arbeite als Richterin im Amtsgericht. Ich darf nicht mehr als 2.600 Euro sparen. Das heißt, wenn meine Kollegen den nächsten Sommerurlaub planen, kann ich vielleicht meine Eltern fragen, ob Sie mir was dazugeben möchten, damit ich auch wegfahren kann.“ Dass behinderte Menschen für Teilhabeleistungen teilweise selbst zahlen müssen, steht im Zentrum der Debatte um das neue Teilhabegesetz. Änderungen sind aber auch an vielen anderen Stellen nötig: So wurde im Rahmen der Anhörung eindrücklich auf die Schwierigkeiten der bundesweit sehr unterschiedlichen Verfahren zur Bedarfsermittlung verwiesen. Die Situation ist unübersichtlich und die Qualität der Leistungen hängt nicht immer in erster Linie vom Bedarf ab. Aus diesem Grund sprach sich eine Reihe von Sachverständigen für eine unabhängige Beratung aus. So dürfe die Entscheidung darüber, ob die Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) der beste Ort für einen Menschen ist, nicht in der Werkstatt fallen. Antje Welke, Sachverständige der Lebenshilfe, erläuterte: „Das heißt, dass es darum geht, Teilhabebedarf an Arbeit festzustellen und dann zu schauen, wo kann das vernünftig unterstützt werden: In der WfbM, bei einem anderen Anbieter oder mit einem ‚Budget für Arbeit‘ auf dem ersten Arbeitsmarkt? Das gilt es herauszufinden und auch zu ermitteln, welche Unterstützungsmaßnahme dafür nötig ist.“

Inklusive Arbeitswelt

Die Chancen behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt waren dann auch ein Schwerpunkt der Anhörung. Silvia Helbig, Sachverständige des DGB, stellte die Diskussion in einen größeren Zusammenhang und nahm die Arbeitsbedingungen insgesamt in den Blick: Der Anteil der psychisch behinderten Menschen in Werkstätten nehme zu, was auch auf hohe Stressbelastung und Arbeitsdruck auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zurück zu führen sei. Dem stimmte die Sachverständige Lisa Pfahl, Professorin am Institut für Rehabilitationswissenschaften an der HU-Berlin, ausdrücklich zu: „Der reguläre Arbeitsmarkt wird nicht inklusiver, sondern exklusiver.“ Menschen mit psychischen Behinderungen wechseln schnell in die Werkstatt und wieder hinaus. Die Zugangs- und Abgangszahlen liegen bei 30 Prozent, ein deutliches Zeichen, dass sie auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht unterkommen.

Lösungen sahen die Sachverständigen neben den oben angedeuteten Änderungen in einer verbesserten Unterstützung und Beratung arbeitsloser schwerbehinderter Menschen. Gerade schwerbehinderte Langzeitarbeitslose würden oft nicht entsprechend gefördert, weil sich die Jobcenter ungern auf längere Förderzeiträume einließen, so Helbig. Außerdem würden die Vermittlerinnen und Vermittler den Bedarf nicht immer erkennen. „Grundsätzlich ist es wichtig, dass man behinderte Menschen aus der Unsichtbarkeit, aus der Werkstatt herausholt und dass es Angebote und Leistungen gibt, die in den ersten Arbeitsmarkt führen. Personenzentrierte Leistungen, wie die unterstützte Beschäftigung, zeigen sehr deutlich, dass es möglich ist“, betonte Helbig.

Warum trotz aller Reden über einen inklusiven Arbeitsmarkt die Zahl der Werkstattarbeitsplätze kontinuierlich steigt, erläuterte Professorin Pfahl am Beispiel der Förderschulen: „Pfadabhängigkeit – und zwar sowohl auf der Seite der Institutionen, als auch auf der Seite der Individuen. Institutionen die einmal geschaffen wurden, werden von den Professionellen aufrechterhalten und von bestimmten Interessen getragen. Wir wissen, dass Sonderschulen keine Bildungserfolge erzielen. Trotzdem erhalten wir sie, weil es sie einmal gibt. Und Personen, die einmal in Sondereinrichtungen waren, lernen dort nicht, sich im inklusiven Arbeitsmarkt oder Wohnungsmarkt zurechtzufinden. Sie sind weiter auf Sondereinrichtungen angewiesen. Es gibt eine institutionelle Diskriminierung.“

Schließlich lag der Fokus aber auch auf Wegen zu einer Veränderung der Situation. Antje Welke betonte noch einmal die Bedeutung des Budgets für Arbeit: Es sei wichtig, den Lohnkostenzuschuss mit einer Unterstützung vor Ort zu kombinieren, das hätten die Erfahrungen mit dem Budget für Arbeit gelehrt. Eine solche Kombination mache das Budget auch für einen wesentlich größeren Personenkreis interessant, als bisher, so Welke. Dafür müsse es allerdings finanziell entsprechend ausgestattet sein. Professorin Pfahl lenkte den Blick auf Modelle anderer Länder: „Werkstätten können auch als soziale Kooperativen gegründet werden, wie in Italien. Dort verdienen Beschäftigte und Fachkräfte in den Werkstätten ungefähr gleich viel vom Gewinn ihrer Einrichtung. Solche Möglichkeiten sollten wir in Zukunft angehen oder mitdenken. Werkstätten dürfen keine Orte mehr sein, in denen Fachkräfte Karrieren machen und andere Personen langfristig ausgegliedert werden.“

Barrierefreiheit voranbringen!

Einen zweiten Schwerpunkt der Anhörung bildeten Fragen zur Barrierefreiheit. Die grüne Bundestagsfraktion hatte in dem Antrag „Sofortprogramm für Barrierefreiheit und gegen Diskriminierung“ gefordert, das Gebot angemessener Vorkehrungen in das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) aufzunehmen. Das ist auch eine Empfehlung des Evaluationsbericht der Universität Kassel zum BGG. Der Sachverständige Professor Felix Welti, der das Evaluationsprojekt geleitet hat, erläuterte: „Das Konzept der angemessenen Vorkehrungen ist nicht wirklich neu. Es geht um die Erkenntnis, dass Gleichstellung von materieller Ebene nur erreicht werden kann, wenn Menschen an bestimmten Punkten aufgrund ihrer Behinderung ungleich behandelt werden, das heißt, ungleiche Voraussetzungen auch mit ungleichen Maßnahmen beantwortet werden.“

Das BGG sieht bereits vor, dass Verbände behinderter Menschen und Unternehmensverbände Zielvereinbarungen treffen, um Barrierefreiheit herzustellen. Doch bislang gibt es nur wenige solcher Zielvereinbarungen. Professor Welti sieht deshalb die rechtlichen Vorgaben nicht umgesetzt: „Das hat bisher keinen Erfolg gehabt, weil die Unternehmensverbände von der irrigen Annahme ausgingen, es sei völlig freiwillig, ob Sie das machen oder nicht.“

Schließlich wurde debattiert, inwiefern ins BGG ein Rechtsanspruch aufgenommen werden sollte, dass amtliche Bescheide in Leichter Sprache verfasst werden müssen. Insbesondere für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist das wichtig, erklärte Antje Welke. Professor Welti stimmte zu: „Es muss einen Anspruch darauf geben, dass Behörden ihre Bescheide übersetzen oder erklären. Ein Bescheid ist ohnehin nur dann rechtsgültig, wenn er dem Empfänger zugegangen ist, das heißt auch von ihm verstanden wird. Der Bürger im Rechtsstaat muss wissen, was von ihm verlangt wird, auch der Bürger mit Lernschwierigkeiten.“