Unterstützung nur nach Kassenlage?

[15.07.2014]  Artikel

Eine inzwischen 70-jährige Britin muss nachts Windeln tragen, obwohl sie nicht inkontinent ist. Sie muss sich „in die Hose machen“, weil die britische Sozialversicherung die Pflegekraft einsparen möchte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat nun entschieden, dass die Frau das Vorgehen der Behörden akzeptieren müsse.

Die Klägerin aus London ist infolge eines Schlaganfalls in ihrer Mobilität sehr eingeschränkt und kann nicht alleine zur Toilette gehen. Bis 2008 hatte sie auch nachts Unterstützung durch eine Pflegekraft, die ihr zur Toilette half. Dann strichen die Sozialbehörden diese Leistung und stellten nur noch Inkontinenzkissen zur Verfügung. Nachdem ein Gericht in Großbritannien ihre Klage abgewiesen hatte, zog die Britin bis vor den EGMR. Dieser bezweifelte zwar nicht, dass sich die Frau in einer sehr belastenden Situation befindet. Doch in Abwägung mit den wirtschaftlichen Interessen von Staat und Gesellschaft müsse sie die Unannehmlichkeiten hinnehmen. Denn die finanziellen Mittel für soziale Leistungen seien begrenzt und auf das absolut Notwendige zu beschränken.

Das Urteil könnte über Großbritannien hinaus Auswirkungen auf die Rechtsprechung der Sozialgerichte in Europa haben. Das Recht behinderter Menschen auf ein würdevolles, selbstbestimmtes Leben und gleichberechtigte Teilhabe mit der Kosten-Keule abzuwürgen, ist hochproblematisch. Geht es hier doch genauso um ein Grund- und Menschenrecht wie bei der Demonstrationsfreiheit, für deren Gewährleistung – zu Recht – niemand Kosten und Ressourcen scheuen würde. Selbst Fußballspiele sind uns offenbar so viel wert, dass der Staat für die nötigen Polizeieinsätze jede Saison zig Millionen Euro aufwendet.

Menschenrechte sind keine Verhandlungsmasse

Natürlich sind finanzielle Mittel nicht unbegrenzt verfügbar. Schuldenbremsen und europäischer Fiskalpakt zwingen auch in Deutschland Bund, Länder und Kommunen zum Sparen. Selbst die derzeitige niedrige Zinsbelastung und erhöhte Steuereinnahmen führen nicht zu einer nennenswerten Entspannung der öffentlichen Haushalte. Zu hoch sind die Schuldenberge und zu lange wurden Investitionen in die Infrastruktur vernachlässigt. Über Steuererhöhung nachzudenken, weist die Union weit von sich. Wie mit den begrenzt zur Verfügung stehenden Mitteln umgegangen wird, muss politisch entschieden werden. Als eines der reichsten Länder an der Verwirklichung von Menschenrechten zu sparen, ist aus unserer Sicht keine Option.

Die Gefahr ist allerdings groß, dass nun auch das Bundesteilhabegesetz, über das Bund und Länder seit Jahren debattieren, als Sparmöglichkeit gesehen wird. Dabei geht es eigentlich darum, die Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung effizienter zu gestalten und ihre Selbstbestimmung zu stärken – insbesondere vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention. Und das wird dauerhaft nicht notwendig zu höheren Kosten führen: Die Unterstützung soll sich mehr als bisher an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und weniger an den Interessen bestehender Einrichtungen (wie Wohnheimen oder Werkstätten für Menschen mit Behinderungen). Darüber hinaus sollen die Leistungen unabhängig von Einkommen und Vermögen gezahlt werden. Für diese Ziele kämpfen wir Grünen schon seit Jahren.

Das Recht auf Teilhabe darf nicht unter Finanzierungsvorbehalt gestellt werden. Ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben muss für alle Menschen in jedem Alter möglich sein, ob mit oder ohne Beeinträchtigung.

 

Beitrag von Corinna Rüffer in  „grünRegional“ (Heft 7/2014), dem Mitgliedermagazin von Bündnis 90/Die Grünen Rheinland-Pfalz.