Von der Werkstatt ins Wahlkreisbüro

[05.10.2020]  Artikel
Corinna im Interview mit Lukas Krämer
© Hans Krämer

Es war ein Glücksfall für meine Arbeit, dass ich Lukas Krämer kennenlernte. Der YouTuber hat sich aus der Behindertenwerkstatt rausgekämpft und ist seit einem Jahr für meine Social-Media-Arbeit zuständig.

Lukas Krämer ist Social-Media-Profi. Er betreibt seit fast vier Jahren den YouTube-Kanal „SakulTalks“, auf dem er vor allem über die Situation von Menschen mit Behinderung berichtet. In meinem Wahlkreisbüro ist er für die Social-Media-Arbeit zuständig.

Der Weg dorthin war lang und zugetraut hat ihm das vermutlich kaum jemand. Denn aufgrund einer Hirnhautentzündung im Kleinkindalter sind Lukas Nervenbahnen geschädigt und er hat Probleme mit dem Sprachzentrum, weshalb er nie lesen und schreiben gelernt hat. Die Förderschule verließ Lukas ohne Abschluss und landete anschließend im Sondersystem Behindertenwerkstatt, erst in Wittlich, später in Bernkastel-Kues. Dort stellte Lukas Teile für Fensterbänke und Wasserhähne her – für gerade einmal 200 Euro Monatslohn. Damit verdiente er sogar etwas mehr als die durchschnittlich 180 Euro, die Werkstattbeschäftigte in Deutschland für eine 35- bis 40-Stundenwoche erhalten.

Besonders absurd ist das bei den sogenannten Außenarbeitsplätzen: Hier arbeiten Werkstattbeschäftigte in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarkts für den gleichen mickrigen Werkstattlohn – Seite an Seite mit Kolleg*innen, die nach Tarif bezahlt werden. Dabei sind Werkstätten umsatzstarke Unternehmen, die auch Aufträge für Industrie und Handel ausführen. Sie erwirtschaften jährlich insgesamt etwa 8 Milliarden Euro, so viel wie die Drogeriekette dm im Jahr 2013. Auch Lukas arbeitete eine Zeit lang auf einem Außenarbeitsplatz in einem Seniorenheim. Sein Lohn verbesserte sich trotz neuer Aufgaben kaum, eine Perspektive auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gab es nicht. Dabei wäre es Aufgabe der Werkstätten, ihre Beschäftigten zu qualifizieren und zu unterstützen, einen Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden. Das gelingt aber fast nie: Nicht mal ein Prozent der Werkstattbeschäftigten schafft den Sprung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Ich habe Lukas zufällig kennengelernt, als er 2017 mit einer Besuchergruppe aus Rheinland-Pfalz den Bundestag besuchte. Etwas später bat er mich um ein Interview für seinen Kanal und fragte mich, ob ich ihn beschäftigen könne. Meine Zusage war eine meiner besten Entscheidungen! Und nachdem wir den steinigen Weg durch das komplizierte Beantragungsverfahren gemeistert hatten, konnte ich Lukas mit einem „Budget für Arbeit“ (Lohnkostenzuschuss für ehemalige Werkstattbeschäftigte) einstellen.

Seit über einem Jahr begleitet mich Lukas nun mit der Kamera im Wahlkreis und bei Veranstaltungen und produziert Videos für meine Social-Media-Kanäle. Dabei läuft das Thema Inklusion immer mit. Insbesondere die Missstände in Behindertenwerkstätten sind bis heute unser gemeinsames Thema. Auf „SakulTalks“ hat er mehrfach darüber berichtet, wie die coronabedingte Schließung der Werkstätten die Situation der Beschäftigten verschärft hat. Da Aufträge und Einnahmen weggebrochen sind, wurde vielen Werkstattbeschäftigten der sowieso schon magere Lohn gekürzt, in Lukas ehemaliger Werkstatt in Bernkastel-Kues beispielsweise auf 140 Euro. Gleichzeitig sind Werkstattbeschäftigte nicht arbeitslosenversichert und erhalten kein Kurzarbeitergeld.

Lukas ist das beste Beispiel dafür, wie dringend nötig es ist, das Sondersystem der Werkstätten umzugestalten und einen inklusiven Arbeitsmarkt zu schaffen. So verlangt es auch die UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 27): Menschen mit Behinderung haben das Recht auf einen gleichberechtigten Zugang zu Beschäftigung, um ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Wie gut das funktionieren kann, erleben Lukas und ich jeden Tag!

(Artikel aus „grünRegional“, Ausgabe 3/2020)